Die wilden 20er – Nach(t)leben einer Epoche. Werke aus der Kunstsammlung der Berliner Volksbank

ausstellung

Wie die Epoche der 1920er Jahre das künstlerische Schaffen späterer Generationen bis in die Gegenwart beeinflusst hat, zeigte die Präsentation im Kunstforum der Berliner Volksbank.

Die 20er Jahre faszinieren die Menschen auch noch hundert Jahre nach dieser aufregenden Epoche. Das spiegelt sich im Erfolg von Serien wie „Babylon Berlin“ wider, aber auch eindrücklich in den Bereichen Design, moderne Literatur und aktueller Mode.

Die Kunst reagierte zu ihrer Zeit auf die 20er Jahre mit Stilrichtungen wie der Neuen Sachlichkeit und dem Magischen Realismus. Wie stark sich davon spätere Generationen von Kunstschaffenden inspirieren ließen und bis heute lassen, zeigt die Ausstellung „Die wilden 20er – Nach(t)leben einer Epoche. Werke aus der Kunstsammlung der Berliner Volksbank“. Vorgestellt werden Arbeiten Gudrun Brüne, Albrecht Gehse, Hubertus Giebe, Otto Gleichmann, Clemens Gröszer, Karl Lagerfeld, Hartmut Neumann, Roland Nicolaus, Wolfgang Peuker, Bernard Schultze, Volker Stelzmann, Christian Thoelke und Britta von Willert.

Die Kunstwerke entstanden in den 1970er Jahren bis zur Gegenwart. Sie zeugen davon, wie stilprägend diese Epoche war, und dass auch spätere Künstlergenerationen Bezug nahmen auf die klare, strenge Gegenständlichkeit der Neuen Sachlichkeit und die surrealen und verfremdeten Szenen des Magischen Realismus.

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, der käuflich erworben werden kann: Publikationen

Katalogtext von Kuratorin Dr. Janina Dahlmanns

Die Kunstsammlung der Berliner Volksbank ist auf gegenständliche Kunst konzentriert, die vor allem in Berlin und den umliegenden Regionen nach 1945 entstand. Es befinden sich daher die verschiedensten Positionen deutscher Kunst der Moderne in der Sammlung, von expressiven Ausdrucksformen über altmeisterlich-realistische Malerei bis hin zu plakativ reduzierten Standpunkten. Eine Gruppe von Werken fällt durch ihre präzise, fast schon betont realistische Malweise sowie durch eine naturalistische Wiedergabe von Farben, Volumina und Perspektive auf. Zugleich zeigt sie verfremdende Effekte wie an nächtliche Visionen oder Träume erinnernde Lichtverhältnisse oder übertrieben dramatische Gesten. Einige Gemälde sind von geheimnisvoller Atmosphäre durchweht und regen den Betrachter an, sich mit der jeweils besonderen Stimmung auseinanderzusetzen.
Die frühesten Gemälde dieser Art aus der Kunstsammlung der Berliner Volksbank entstanden in den 1970er Jahren wie beispielsweise das „Nachtcafé“ von Hubertus Giebe. Eine ganze Reihe wiederum stammt aus den letzten 20 Jahren wie die Arbeiten von Clemens Gröszer, Volker Stelzmann, Wolfgang Peuker oder Gudrun Brüne. Die Malweise dieser Künstler*innen erinnert an den übergenauen Verismus der 1920er Jahre.
In der Zeit der Weimarer Republik setzten sich in der deutschen Kunst verstärkt Strömungen durch, die sich wieder stärker an der gesehenen Wirklichkeit orientierten wie die Neue Sachlichkeit oder der Magische Realismus. Nachdem um 1900 die Moderne mit traditionellen Darstellungsformen gebrochen hatte – der Impressionismus mit der Vorstellung des einheitlichen Lichts, der Expressionismus mit der naturalistischen Farbgebung oder der Kubismus mit der klassischen Perspektive – war europaweit in der Kunst eine „Rückkehr zur Ordnung“ festzustellen. Nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs strebten die Künstler in Deutschland zu einer neuen Objektivität und einer schonungslosen Darstellung des Gesehenen. Das Aufdecken und die Kritik sozialer Missstände und gesellschaftlicher Ambivalenzen sollte so verbildlicht werden. Andere Künstler malten Szenen, die nur auf den ersten Blick realistisch erschienen, beim genaueren Hinsehen jedoch Brüche mit der vertrauten Wirklichkeit offenbarten und die Unsicherheiten der gesellschaftlichen Situation sichtbar machten. Eine lebendige und durchaus auch vielfältige Kunstszene illustrierte die 1920er Jahre. Von den ausgelassenen Feiern der Bohème in den Städten und deren Tanz auf dem Vulkan, über das neue Rollenverständnis der modernen Frau bis hin zu den gewaltigen sozialen Problemen und der Kluft zwischen Arm und Reich wurde alles thematisiert. Ein brutales Ende fand diese kurze Ära durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933, die dieser kulturellen Blüte ein jähes Ende bereitete.
Es stellt sich die Frage, weshalb Künstler*innen wie Clemens Gröszer, Volker Stelzmann, Hubertus Giebe, Wolfgang Peuker oder Gudrun Brüne viele Jahrzehnte später auf den Stil und die Themen dieser Zeit so eindringlich reagierten.
Bereits Mitte der 1960er Jahren hatte sich im östlichen Teil Deutschlands eine erste Renaissance der Bildsprache der 1920er Jahre herausgebildet. An der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig entstand eine figurative Kunstrichtung, die die engen Vorgaben des vom Staat vorgegebenen „Sozialistischen Realismus“ durchbrach und die malerischen, technischen Raffinessen verschiedener kunsthistorischer Vorbilder wieder aufleben ließ. Die bis heute berühmte, so genannte „Leipziger Schule“ wurde geboren. Werner Tübke, Wolfgang Mattheuer und Bernhard Heisig orientierten sich auch an Größen der 1920er Jahre wie Otto Dix, Giorgio de Chirico, Oskar Kokoschka oder Max Beckmann. Bei Tübke spielte die Auseinandersetzung mit älterer Kunst, insbesondere Renaissance und Manierismus, eine tragende Rolle. Bereits die Künstler der 1920er Jahre hatten diesen Blick in die Vergangenheit gerichtet. Gewissermaßen lässt sich stilistisch und technisch von der Renaissance einer Renaissance sprechen, die jedoch thematisch jeweils auf die aktuelle Gegenwart bezogen war. Die Kunst der „Leipziger Schule“ etablierte sich mittels ihrer drei Hauptprotagonisten und wurde durch ihre zahlreichen Schüler an der Leipziger Hochschule weitergetragen und -entwickelt. Zwei stilistische Strömungen dominierten: die Malerei in veristischer, präziser Lasurtechnik und die in gestischer, impulsiver gestalteter Pastosität.
In den 1970er Jahren studierten Giebe, Stelzmann und Peuker an der Hochschule für Grafik und Buchkunst. Sie fanden in der Auseinandersetzung mit Otto Dix, aber auch mit Giorgio de Chirico, einem Vertreter der italienischen Pittura Metafisica, die sich parallel zum Magischen Realismus in Deutschland entwickelte, Vorbilder für die eigene künstlerische Arbeit. Für Giebe war Max Beckmann eine spannende Anregung, Stelzmann setzte sich mit noch älteren Meistern der Kunstgeschichte auseinander wie El Greco oder Pontormo, während Peuker seine eigene Spielart des Magischen Realismus entwickelte. Jeder der Künstler gelangte so zu einem ganz persönlichen Stil.
So gelang der Kunst der Leipziger der Spagat, einerseits der gewünschten Linie der DDR-Kunstpolitik vordergründig zu entsprechen, sich durch Gegenständlichkeit vom Westen abzusetzen, und sich damit ein einigermaßen ungestörtes künstlerisches Arbeiten zu ermöglichen – andererseits eröffneten sich Möglichkeiten, gerade durch Verfremdung und Hintergründigkeit, eigene und unabhängige Bildaussagen zu treffen. So bot die aus den 1920er Jahren stammende Richtung des Magischen Realismus vielen Künstlern der DDR einen Ansatz, mit verrätselten Elementen und zahlreichen Bedeutungsebenen auf die dem Künstler eigentlich relevante Bildaussage zu verweisen – nur dass diese auf den oberflächlichen Blick nicht ersichtlich war.
Gemeinsam sind Künstlern wie Giebe, Stelzmann und Peuker die präzise Linienführung, die Detailgenauigkeit und die fein lasierten Farbschichten ebenso wie die surreal und magisch aufgeladenen Sujets. Zudem haben sie ihren jeweiligen individuellen Stil auch in der Wende- und Nachwendezeit beibehalten. Es scheint, dass die gefundene Bildsprache geeignet war, die eigenen Empfindungen auch angesichts der gesellschaftlichen und persönlichen Veränderungen eindringlich abzubilden.
Weitere Beispiele für Kunstschaffende, die diese an die Kunst der 1920er Jahre angelehnte Malweise in ihre Handschrift übertrugen, sind Gudrun Brüne, in Leipzig ausgebildet und dann in Halle an der Burg Giebichenstein als Dozentin tätig, sowie die beiden Berliner Maler Clemens Gröszer und Roland Nicolaus.
Gröszer schuf mit seinen Werken oft komplexe Erzählungen, die mit vielschichtigen Zitaten aus allen Epochen ein Vexierbild der menschlichen Sehnsüchte, Träume, Hoffnungen und Erwartungen kreieren. Er bezog Allegorien und Symbole in seine Arbeiten ein und verwob die Welten von Traum und Fantasie mit Elementen aus seinem Alltagsleben. So sind seine Figuren, die sich in geheimnisvollen Schattenwelten aufhalten, durchaus im Chic der zeitgenössischen Underground-Szene gekleidet, während ein maskierter Zauberer am Berliner Alexanderplatz neben dem S-Bahnhof stehen kann. Gröszer transponiert eine altertümliche Malweise in seine Gegenwart, dabei war auch stets die technische Perfektion der Malerei ein großes Anliegen.
„Gröszer gehörte früh zu den Malern, die aus den Ingredienzien der Krise, des Verlustes der Autonomie, der Medienkonkurrenz und dem neuen, kommerzbestimmten kulturellen Zeichensystem sozusagen eine Rettungsaktion genuin malerischer Ideen versuchten.“ (Matthias Flügge, in Kat. Gröszer – Antlitz, 2012, S. 11)
Auch Gudrun Brüne konzentrierte sich in ihrem Schaffen auf die malerische Präzision, während ihr Werk zugleich von Symbolen und Allegorien auf das menschliche Dasein durchdrungen ist. In ihrem Schaffen mischen sich häufig die Gattungen: Porträts sind mit Stillleben kombiniert und Figuren treten in schweigende Dialoge mit den Dingen. Traum- und Erinnerungsbilder sind mit realen Szenen aus Brünes Atelier zusammengeführt. Dabei spielen die Gegenstände, wie Puppen, Masken, Erinnerungsstücke eine symbolische Rolle, die die Gesamtwirkung unterstreicht: die Welt von außen wird in der Innenwelt des Ateliers reflektiert.
In besonderer Weise setzt sich Roland Nicolaus mit den 1920er Jahren auseinander. Dabei verbindet er in seinen jüngsten Arbeiten verschiedene malerische Stile miteinander, von der minutiösen Detailmalerei bis zur plakativen Pop-Art, und kreiert collageartige Panoramen. Dabei ist auch dies eine bewusste Reverenz an die 1920er Jahre, ist doch das Prinzip der Collage erstmals in dieser Zeit mit der Dada-Bewegung aufgekommen. In diesen gemalten Collagen, teilweise durch eingeklebte Zeugnisse der Alltagskultur ergänzt, greift Nicolaus Figuren, Beobachtungen und Phänomene der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Berlin im 21. Jahrhundert auf und zeigt ein Sittenbild der Gegenwart. Durch Zitate aus der Kunstgeschichte in Konstellationen und Figuren enthüllt er Verwerfungen und Absurditäten der sozialen Realität der Gegenwart, in denen er durchaus auch inhaltlich Parallelen zu den 1920er Jahren in Deutschland sieht. So entsteht ein bitterböser Kommentar zur gegenwärtigen Situation.
Diese magisch-surreale Richtung in der Kunst des späten 20. Jahrhunderts, die einen bedeutenden Teil der gegenständlichen Kunst in Deutschland bildet, findet jedoch mit der Generation der in der DDR ausgebildeten Künstler*innen keinen Endpunkt. Die Faszination der malerischen Akkuratesse, der detaillierten Formulierung des oberflächlich Sichtbaren in Verbindung mit hintersinnig versteckten Bedeutungsebenen wird bis in die Gegenwart auch von jüngeren Künstlergenerationen fortgeführt.
So hat die in den frühen 2000er Jahren ausgebildete Britta von Willert sich ebenfalls für die gegenständliche Malerei entschieden, die mit realistischer Genauigkeit Figuren und Räume modelliert. Dabei bezieht sie bisweilen Gedankenbilder in die Darstellungen mit ein, und zeigt eine offen aufgefasste Tradition des Magisch-Surrealen, wie in ihrer Serie von Berlin-Bildern, die die gewusste Vergangenheit des Ortes in Figuren aus historischen Schwarz-Weiß-Fotografien des frühen 20. Jahrhundert sichtbar macht und spannungsvolle Überblendungen erzeugt. In anderen Arbeiten aus dem Berliner Nachtleben erinnern die stille Atmosphäre und die introvertierten Figuren an die Darstellungen des amerikanischen Malers Edward Hopper. Dieser hatte in den 1920er und 1930er Jahren die Einsamkeit des modernen Menschen und die Entfremdung des Großstadtlebens visualisiert.
Die gesellschaftlichen Themen der Gegenwart in ihrer Beziehung zu den menschlichen Emotionen abzubilden, ist auch das Ziel von Christian Thoelke, der in den Jahren vor und nach der Jahrtausend- wende studiert hat. In seinen Gemälden dominiert eine auf den ersten Blick ruhige Stimmung, die in der genaueren Betrachtung aber auch als latent unheimlich und spannungsgeladen wahrgenommen wird. Es geht um allgemeingültige Fragen des Menschen in Bezug auf Umbrüche, auf Entwurzelung, auf Übergänge, auf Ängste und auf Sehnsüchte. Die gesellschaftlichen Themen werden nicht erzählerisch abgebildet, sondern in ihrem Wesen und Kern sichtbar gemacht. Die malerische Detailschärfe und Präzision in Thoelkes Malerei erinnert an die Neue Sachlichkeit – doch verrät sich hier auch die Inspiration und Anregung durch seine Lehrer Wolfgang Peuker und Ulrich Hachulla, die beide die technische Sorgfalt der „Leipziger Schule“ weitertrugen.
Die Kunst der 1920er Jahre wirkt also bis heute nach und inspiriert Generationen von Künstler*innen. Ihre Herangehensweise und Stilistik bietet eine Möglichkeit, die Fragen und Beobachtungen der eigenen Lebenswirklichkeit auf die Kunst zu übertragen, unabhängig von Zeitstil und Moden. Die Genauigkeit der technischen Umsetzung geht dabei über subjektives Ich-Empfinden und den Ausdruck persönlicher Befindlichkeit hinaus. Die präzise Dingbeschreibung ebenso wie die geheimnisvolle Verrätselung und große atmosphärische Spannung erlauben es, Gedanken zur gesellschaftlichen Situation zu visualisieren, ohne dabei erzählerisch und plakativ zu wirken. Statt- dessen wird auf hintersinnige Weise der Denkprozess des Betrachters angeregt und seine Aufmerksamkeit für Nuancen und Zwischentöne herausgefordert. Dies macht den Reiz und die Faszination dieser Stilrichtung der gegenständlichen Kunst aus, die gewissermaßen zeitlos bis in die Post-Post-Moderne Bestand hat.

Janina Dahlmanns

Ausstellungsfilm „Sachlich magisch”

30:15 Minuten © Stiftung KUNSTFORUM der Berliner Volksbank gGmbH.

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